Die falsche Ananas
Gefäße aus Silber kommen in den unterschiedlichsten Formen daher. Besonders aufwändig sind oftmals die Pokale gestaltet. Sie tragen beschreibende Namen wie Akeleipokal, Apfelpokal, Doppelscheuer oder Buckelpokal. Und auf eine Sonderform des Buckelpokals werde ich hier detaillierter eingehen.
In der Literatur, in den Beschreibungen für Auktionskataloge und sogar Museumsdatenbanken findet sich oft der Begriff „Ananaspokal“. Er bezieht sich auf eine Deckelpokalform mit zumeist eiförmiger Kuppa mit gebuckelter Oberfläche, bei dem sich die zackigen Ränder passgenau aufeinander fügen (Abb. 1). Der Deckel wird von einer Pflanze bekrönt und auch der Schaft erinnert meist an Baumstämme oder Stängel (Abb. 2) oder ist figürlich ausgestaltet.
Diese Pokalform gibt es schon seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert, also bereits seit einer Zeit, zu der die Ananas in Mitteleuropa noch eine ganz exotische Frucht und die betreffenden Goldschmiede diese Frucht höchstvermutlich noch nie in natura gesehen hatten.
Die Ananas überdauerte den Transport von Südamerika nach Europa nicht gut, war bis zur Erfindung der Gewächshäuser schwer in Europa anzubauen und deshalb dort extrem kostspielig. Sie löste dennoch – oder gerade deswegen – eine Ananas-Mode in Europa aus, allerdings setzte diese erst Ende des 17. Jahrhunderts ein.
Folglich gilt die Bezeichnung „Ananaspokal“ auch gemeinhin als falsch. Tatsächlich handelt es sich um Traubenpokale.
Ein weiteres Indiz hierfür ist, neben der Traubenform der Buckeln, dass sich am Schaft oft Winzer befinden. Bei einem Exemplar, das zur Sammlung des British Museum gehört, ist der Schaft sogar in Gestalt des Weingottes Bacchus ausgeformt (hier der Link).
Der Traubenpokal ist nachweislich eine bereits Ende des 16. Jahrhunderts entstandene Variante des Buckelpokals. Ihre Ursprünge liegen vermutlich in Nürnberg und werden der Werkstatt des Goldschmieds Hans Petzold (1550 – 1632) zugeordnet. Dieser produzierte zahlreiche Trinkgefäße; allein 18 Traubenpokale und 64 weitere Pokale steuerte er wohl für das Nürnberger Ratssilber bei.
Als Variante gibt es auch Pokale mit kantigeren „Diamantbuckeln“, häufig in Herzform, welche ebenfalls mitunter als „Ananaspokale“ bezeichnet werden (hier der Link zu einem Beispiel aus des Museum für Angewandte Kunst in Wien). Hier ist der Vergleich aufgrund der Rautenstruktur noch eher nachzuvollziehen.
Die nachträgliche Interpretation der Traube zur Ananas lässt sich nicht schlussendlich klären, wird wohl auf die entfernte Ähnlichkeit der Früchte zurückzuführen sein. Bis heute ist diese Bezeichnung noch in der Literatur und Sammlungsdatenbanken zu finden. Wie so häufig werden tradierte Begriffe übernommen und nicht kritisch hinterfragt. Der „Ananaspokal“ ist somit ein weiteres Symptom einer aktuell kaum vorhandenen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit kunsthandwerklichen Gegenständen in Deutschland. Es gibt noch viel zu tun.
Literaturhinweise:
Stefanie Meier-Kreiskott/Silke Reiter: Kostbarkeiten einer süddeutschen Privatsammlung, München 2015.
Claudia Horbas/Renate Möller, Silber von der Renaissance bis zur Moderne, Fakten – Preise – Trends, München/Berlin 2000, S. 46.
Harold Newman, An Illustrated Dictionary of Silverware, London 1987/2000.
Manfred Meinz, Schönes altes Silber, Keysers Handbuch für Sammler und Liebhaber, Gütersloh 1987.
Istvan Dombi/Bernd Höfler/Ingrid Loschek, Bruckmann’s Silber-Lexikon, München 1982.
https://www.deutsche-biographie.de/sfz95089.html (abgerufen am 22.2.2021)
https://de.wikipedia.org/wiki/Ananas (abgerufen am 22.2.2021)